Ein Auszug aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton 8. Januar 2004, Nr. 6, S. 33 - Prof. Dr. W. Singer:
» Keiner kann anders als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.«
Entscheidungsgrundlagen
Entscheidungen sind das Ergebnis von Abwägungsprozessen, an denen jeweils eine Vielzahl
unbewusster und bewusster Motive mitwirken. Diese legen gemeinsam das Ergebnis fest, sind jedoch in
ihrer Gesamtheit kaum zu erfassen, weder vom entscheidenden Ich noch vom außenstehenden
Beobachter. Hirnforscher behaupten, dass Entscheidungen vom Gehirn getroffen werden, also auf
neuronalen Prozessen beruhen. Sie müssen deshalb erklären, wie das Wissen neuronal repräsentiert
ist, auf dem Entscheidungen beruhen, wie sich die Motive für Entscheidungen im Nervensystem
manifestieren, wie die Abwägungsprozesse organisiert sind, wie das wollende und entscheidende
"Ich" sich konstituiert und schließlich, welches die Konsequenzen der Antworten für unser
Selbstverständnis und die Beurteilung von Fehlentscheidungen sind.
Die Gewissheit, dass unser Wollen und Entscheiden auf neuronalen Vorgängen im Gehirn beruht,
verdankt sich der Konvergenz mehrerer, unabhängiger Beobachtungen. Eine Argumentationslinie
stützt sich auf die evolutionsbiologische Evidenz einer engen Korrelation zwischen dem
Differenziertheitsgrad von Gehirnen und ihren kognitiven Leistungen. Die Verhaltensleistungen
einfacher Organismen lassen sich lückenlos auf die neuronalen Vorgänge in den respektiven
Nervensystemen zurückführen. Da die Evolution sehr konservativ mit Erfindungen umgeht,
unterscheiden sich einfache und hochdifferenzierte Gehirne im Wesentlichen nur durch die Zahl der
Nervenzellen und die Komplexität der Vernetzung. Daraus folgt, dass auch die komplexen kognitiven
Funktionen des Menschen auf neuronalen Prozessen beruhen müssen, die nach den gleichen
Prinzipien organisiert sind wie wir sie von tierischen Gehirnen kennen.
Zur gleichen Schlussfolgerung zwingen entwicklungsbiologische Argumente: Die Ausdifferenzierung
von Hirnstrukturen in der Individualentwicklung geht Hand in Hand mit der Ausbildung immer
komplexerer kognitiver Fähigkeiten. Dies gilt auch für die mentalen Leistungen, die den Menschen
auszeichnen. Schritt für Schritt erwirbt das Kind die Fähigkeit, sich einer symbolbasierten
Sprache zu bedienen, logische Operationen höherer Ordnung auszuführen, ein Ich-Bewusstsein auszubilden und,
sich dadurch seiner selbst als autonomem Agenten gewahr zu werden. Mit der Ausreifung von
Strukturen im Frontalhirn einher geht dann die Gabe, eine Theorie des Geistes zu entwickeln, d. h.
sich vorstellen zu können, was der je andere denkt oder fühlt, und der Erwerb hochdifferenzierter
sozialer Kompetenzen. Soweit es nur um diese operationalisierbaren kognitiven Funktionen geht, erscheint deren neuronale Bedingtheit also zwingend.
Aber wie verhält es sich mit der Repräsentation sozialer Realitäten, den Glaubens- und Wertesystemen, die ihr In-die-Welt-kommen der schöpferischen Leistung sozialer Systeme verdanken.
Finden auch diese ihren Niederschlag in den neuronalen Prozessen einzelner Gehirne?
Wie Wissen in den Kopf kommt
Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt, residiert in seiner funktionellen Architektur, in der
spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen. Zu diesem Wissen zählt nicht nur, was
über die Bedingungen der Welt gewusst wird sondern auch das Regelwerk, nach dem dieses Wissen
zur Strukturierung unserer Wahrnehmungen, Denkvorgänge, Entscheidungen und Handlungen
verwertet wird. Dabei unterscheiden wir angeborenes und durch Erfahrung erworbenes Wissen.
Ersteres wurde während der Evolution durch Versuch und Irrtum erworben, liegt in den Genen
gespeichert und drückt sich jeweils erneut in der genetisch determinierten Grundverschaltung der
Gehirne aus. Das zu Lebzeiten hinzukommende Wissen führt dann zu Modifikationen dieser
angeborenen Verschaltungsoptionen. Solange die Hirnentwicklung anhält - beim Menschen bis zur
Pubertät -, prägen Erziehungs- und Erfahrungsprozesse die strukturelle Ausformung der Nervennetze
innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes. Später, wenn das Gehirn ausgereift ist,
sind solche grundlegenden Änderungen der Architektur nicht mehr möglich. Alles Lernen beschränkt
sich dann auf die Veränderung der Effizienz der bestehenden Verbindungen. Das seit Beginn der
kulturellen Evolution zusätzlich erworbene Wissen über die Bedingungen der Welt, das Wissen um
soziale Realitäten, findet also seinen Niederschlag in kulturspezifischen Ausprägungen der
funktionellen Architektur der einzelnen Gehirne. Frühe Prägungen programmieren dabei die Vorgänge
im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren, da beide Prozesse sich gleichermaßen in der
Spezifikation von Verschaltungsmustern manifestieren.
Dass auch die, erst durch Einbettung in Kultur erworbenen Fertigkeiten ihre neuronale Grundlage
haben, bestätigen die Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften. Mentale Akte wie das
Mitempfinden des Leids Anderer, das Haben eines schlechten Gewissens, das Unterdrücken einer
Reaktion, die Missempfindung sozialen Ausgeschlossenseins oder die Verurteilung einer unfairen
Handlung Anderer, all diese intrapsychischen Vorgänge, die ihre Relevanz erst in bezug auf Andere
erfahren, beruhen auf der Aktivierung wohl definierter neuronaler Strukturen. Umgekehrt gilt, dass die
gestörte Funktion der entsprechenden Hirnregionen zum Ausfall dieser Leistungen führt. So gilt
natürlich auch, dass ein Ersuchen oder ein Befehl - nicht anders als gewöhnliche sensorische Reize -
Aktivierungen in ganz bestimmten Hirnregionen auslösen, die erst dann wieder zur Ruhe kommen,
wenn der Auftrag erfüllt oder vergessen wird. Somit beeinflussen kulturelle Verabredungen und
soziale Interaktionen Hirnfunktionen im gleichen Maße wie alle anderen Faktoren, die auf neuronale
Verschaltungen und die auf ihnen beruhenden Erregungsmuster einwirken. Für die Funktionsabläufe
in den neuronalen Netzwerken spielt es keine Rolle, ob Verschaltungsmuster durch genetische
Instruktionen oder durch kulturelle Prägungsprozesse ihre spezifische Ausbildung erfuhren, ob die
Aktivität der Neurone durch gewöhnliche Sinnesreize oder soziale Signale erfolgte.
Verschiedene Formen des Wissens
Wichtig für die Beurteilung von Entscheidungsprozessen ist, dass genetisch vermitteltes Wissen
impliziten Charakter hat, da wir uns an seinen Erwerb nicht bewusst erinnern können. Das Gleiche gilt für früh Erlerntes, weil Hirnstrukturen, die für den Aufbau des deklarativen Gedächtnisses benötigt werden, erst spät ausreifen.
"Deklaratives Gedächtnis" bezeichnet die Fähigkeit, Erlerntes bewusst zu
erinnern und den Kontext mit abzuspeichern, in den der Lernprozess eingebettet war.
Kleine Kinder erwerben Wissen über die Welt, haben aber keine bewusste Erinnerung an den Lernvorgang. Wir
sprechen von frühkindlicher Amnesie. Und so kommt es, dass nicht nur angeborenes Wissen sondern
auch ein wesentlicher Anteil des durch Erziehung tradierten Kulturwissens den Charakter absoluter,
unhinterfragbarer Vorgaben erhält, von Wahrheiten und unumstößlichen Überzeugungen, die keiner
Relativierung unterworfen werden können. Zu diesem impliziten Wissensgut zählen angeborene und
anerzogene Denkmuster und Verhaltensstrategien ebenso wie Wertesysteme und religiöse Überzeugungen. Aus dem gleichen Grund haben vermutlich auch die Inhalte unseres Selbstbildes
jenen absoluten Anspruch. Wir erfahren früh, dass uns zugeschrieben wird, autonome, in unseren
Entscheidungen und Handlungen freie Agenten zu sein, die für ihr Tun verantwortlich sind und
deshalb Sanktionen ausgesetzt werden dürfen. Sätze wie "Wenn Du das tust, dann ..." vermitteln,
man könnte frei zwischen Handlungsoptionen wählen. Auch an den Erwerb dieser Überzeugung, die
wir aus dem auf uns gerichteten Verhalten der Anderen gewinnen, haben wir keine Erinnerung. Das
gleiche gilt für den Prozess, in dem sich unser Ich-Bewusstsein durch Beobachtung unserer Wirkung
auf Andere, durch Spiegelung in der Kognition des Anderen konstituiert. Erst das Weltwissen, das nach der Ausbildung deklarativer Gedächtnisfunktionen erworben wird, also in der Zeit, die wir erinnern, wird zu explizit Gewusstem. Wir erinnern den Lernvorgang, können dieses Wissen bewusst rekapitulieren und sprachlich zu Argumenten verwandeln.
Neuronale Grundlagen von Entscheidungsprozessen
Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den je
optimalen Verhaltensoptionen zu suchen. Sie wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer
Architektur durch genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt wurden.
Um zu entscheiden, stützen sie sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell
verfügbaren Signale aus der Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen,
zu dem auch emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In dutzenden, räumlich getrennten
aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf
Kompatibilität geprüft und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in
dem es schließlich einen Sieger geben wird. Das Erregungsmuster setzt sich durch, das den
verschiedenen Attraktoren am besten entspricht. Dieser distributiv angelegte Wettbewerbsprozess
kommt ohne übergeordneten Schiedsrichter aus. Er organisiert sich selbst und dauert solange an, bis
sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder
Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die
Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweils
unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns. Falls diese Bedingungen
Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche Folgezustände erlauben, dann können auch zufällige
Schwankungen in der Signalübertragung zum Tragen kommen und dem einen oder anderen Zustand
zum Sieg verhelfen.
Dieses Scenario erscheint uns plausibel für Entscheidungen, die wir unwillkürlich treffen, - für die
vielen unbewussten Entscheidungen, die uns sicher durch den Alltag bringen. Aber für Entscheidungen,
die auf der bewussten Abwägung von Variablen beruhen und die wir als gewollt empfinden, fordert
unsere Intuition anderes. Wir neigen dazu, eine von neuronalen Prozessen unabhängige Instanz anzunehmen, die neuronalen Abläufen vorgängig ist: Eine Instanz, die sich Sinnessignale und
Speicherinhalte bewusst machen kann, daraus Schlüsse zieht, eine Option als gewollt identifiziert und
diese dann in Handlung umsetzt. Diese Sichtweise artikuliert sich in zwei Positionen.
Eine, die dualistische, postuliert für die wollende Ich-Instanz einen immateriellen Dirigenten, der das neuronale Substrat nur nutzt, um sich über die Welt zu informieren und seine Entscheidung in
Handlungen zu verwandeln. Diese Position ist mit dem Verursachungsproblem konfrontiert und mit bekannten Naturgesetzen unvereinbar. Sie hat den Status unwiderlegbarer Überzeugungen.
Die andere geht zwar davon aus, dass auch die sogenannten "freien Entscheidungen" vom Gehirn selbst getroffen werden, dass die zu Grunde liegenden Prozesse sich aber aus nicht näher spezifizierten
Gründen über den neuronalen Determinismus erheben können.
Aus neurobiologischer Sicht ist auch diese Lesart unbefriedigend. Wenn eingeräumt wird, dass das
bewusste Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muss es neuronalem
Determinismus in gleicher Weise unterliegen, wie das unbewusste Entscheiden, für das wir dies
zugestehen. Dies folgt aus der zwingenden Erkenntnis, dass neuronale Vorgänge in der Großhirnrinde
nach immer gleichen Prinzipien ablaufen und dass sowohl bewusste als auch unbewusste
Entscheidungen auf Prozessen in dieser Struktur beruhen. Wenn dem aber so ist, warum räumen wir
den bewussten Entscheidungen einen anderen Status ein als den unwillkürlichen, warum wähnen wir
erstere unserer Intention und Wertung unterworfen und sind bereit, für sie besondere Verantwortung zu übernehmen? Wodurch unterscheiden sich bewusste und unwillkürliche neuronale Prozesse?
Bewusste und unbewusste Prozesse
Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren in solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum
Bewusstsein haben, solche, die wahlweise ins Bewusstsein gelangen können, und solche, die
grundsätzlich bewusst sind. Zu den vom Bewusstwerden ausgeschlossenen Vorgängen zählen viele
der sogenannten autonomen Funktionen, welche für ordnungsgemäßes Funktionieren aller Organe,
einschließlich des Gehirns, sorgen. Von den anderen, potentiell bewusstseinsfähigen Vorgängen
können jeweils immer nur wenige gleichzeitig ins Bewusstsein gelangen und im Kurzzeitspeicher
gehalten werden. Generell gilt, dass nur die Sinnessignale bewusst werden, die mit Aufmerksamkeit
belegt werden und dass nur die Speicherinhalte ins Bewusstsein gehoben werden können, die während
des Speichervorgangs mit Aufmerksamkeit belegt und bewusst erfahren wurden. Die Zuteilung von
Aufmerksamkeit unterliegt dabei wiederum einem distributiv organisierten Wettbewerb, der sich in
einem weit verzweigten Netzwerk selbst strukturiert und nicht von einem zentralistischen Dirigenten
verwaltet wird. Ein starker oder unerwarteter Reiz zieht Aufmerksamkeit automatisch auf sich, aber
das Gehirn setzt Prioritäten auch selbst, und das oft unbewusst. Man sucht einen Namen, findet ihn
nicht, die Aufmerksamkeit wandert zum nächsten Problem und plötzlich taucht der gesuchte Name im
Bewusstsein auf. Ein Beispiel von vielen, das illustriert, dass unser Gehirn, nachdem sich ein Bedürfnis
eingestellt hat, offenbar ganz ohne unser "bewusstes" Zutun Speicher durchsuchen, die Stimmigkeit
des Gefundenen mit dem Gesuchten überprüfen und das Resultat ins Bewusstsein bringen kann. Und
dann gibt es die obligat bewussten Prozesse, zu denen alle sprachlich gefassten Vorgänge gehören.
Bewusste Vorgänge unterscheiden sich von unbewussten also vornehmlich dadurch, dass sie mit
Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt und
sprachlich gefasst werden können.
Entsprechend unterscheiden sich die Inhalte, die bewussten Entscheidungen zu Grunde liegen
mitunter von denen, die bei unwillkürlichen Entscheidungen zum Tragen kommen. Bewusste
Entscheidungen basieren per definitionem auf Inhalten bewusster Wahrnehmungen und auf
Erinnerungen, die im deklarativen Gedächtnis als explizites Wissen abgelegt wurden. Bei den
Variablen bewusster Entscheidungen handelt es sich also vornehmlich um spät Erlerntes: um
ausformuliertes Kulturwissen, ethische Setzungen, Gesetze, Diskursregeln und verabredete
Verhaltensnormen.
Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewusste Lernvorgänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewusstmachung entziehen,
stehen somit nicht als Variablen für bewusste Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken
sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewusste Entscheidungsprozesse. Sie lenken den Auswahlprozess, der festlegt, welche von den bewusstseinsfähigen Variablen jeweils ins Bewusstsein rücken, sie geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen verhandelt werden, und sie sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt.
Freie und unfreie Entscheidungen
Hier also könnte der Schlüssel liegen zur Frage, warum wir eine Art von Entscheidung als bedingt und
die andere als frei beurteilen, obgleich beide auf gleichermaßen deterministischen neuronalen
Prozessen beruhen. Offenbar ist es die Natur der Variablen und die Art ihrer Verhandlung. Wir
beurteilen Entscheidungen als frei, die auf der bewussten Abwägung von Variablen gründen, also auf
der rationalen Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten. Entscheidungen, die sich auf diese
Weise vollziehen, werden uns voll zugerechnet. Geprüft wird allenfalls, ob die Person zum Zeitpunkt
der Abwägung in der Lage war, sich die relevanten Variablen bewusst zu machen und diese bei
ungetrübtem Bewusstsein zu verhandeln. Diese Position schreibt dem Bewusstsein eine letztinstanzliche Funktion zu, oder anders, sie setzt die verantwortliche Person mit ihrem Bewusstsein gleich. Sie definiert jenen Anteil am Entscheidungsprozess als "frei", dessen sich die Person bewusst ist. Diese Interpretation
ist nachvollziehbar, denn die Selbst- und Fremdwahrnehmung suggeriert genau dies. Alles, was wir von anderen als Handlungsbegründung erfahren können, ist, was ihnen davon bewusst wird und mitgeteilt werden kann. Dem handelnden Subjekt geht es nicht anders. Auch dieses wird sich nur der bewussten Motive gewahr, und da sie die seinen sind, empfindet es sich als für sie verantwortlich. Das Subjekt erfährt sich zu Recht als Urheber der Entscheidung, die es getroffen hat. Wer sonst käme in Frage?
Die bewussten Motive müssen jedoch keineswegs die entscheidenden gewesen sein, auch wenn es
dem inneren Auge, das nur Bewusstes zu sehen vermag, so scheint, als seien die jeweils bewussten
Argumente hinreichende und vollständige Begründungen. Zweifel kommen nur selten auf, da in der
Regel im Wettbewerb der Entscheidungsprozesse jener Zustand gewinnt, der durch maximale
Kohärenz aller Variablen ausgezeichnet ist, der unbewussten wie der bewussten. Es kann aber passieren, dass die auf bewusster Verhandlung von Argumenten aufbauenden und in sich konsistenten
Lösungen mit den unbewusst ablaufenden Abwägungsprozessen in Konflikt geraten und unterliegen.
Dann heißt es:" Ich habe es getan, obgleich ich es nicht wirklich wollte oder obgleich ich ein ungutes
Gefühl dabei hatte". Das bewusste Ich gesteht ein, anderen Kräften unterlegen zu sein. Gelegentlich
erfindet es sogar Argumente, um im Nachhinein Entscheidungen zu begründen, deren Motive ihm
nicht zugänglich waren. Es ist möglich, einer Person Handlungsanweisungen aufzugeben, ohne dass
sie sich dieser bewusst wird. Führt die Person die Handlung aus und soll sich dann zu der Aktion erklären,
so gibt sie zumeist eine plausible, rational wohl begründete Anwort im intentionalen Format "weil ich dies oder jenes wollte". Die angeführten Gründe sind in solchen Fällen naturgemäß unzutreffend und konnten erst nach der Handlung erfunden werden. Dennoch ist die handelnde Person von der Richtigkeit und der verursachenden Natur der angegebenen Gründe überzeugt und schreibt sich die Handlung als gewollte zu. Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewusstsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht, weil im Bewusstsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden. Und niemand weiß anzugeben, wie hoch bei den alltäglichen, selbst "verantworteten" Entscheidungen dieser fiktive Anteil ist.
Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum wir zwischen unbewussten und bewussten Abwägungsprozessen unterscheiden und letztere als unserem freien Willen unterworfen wahrnehmen,
auch wenn in beiden Fällen der Entscheidungsprozess selbst auf deterministischen neuronalen
Prozessen beruht. Wenn aber alle Entscheidungen auf gleichermaßen bedingten neuronalen Prozessen beruhen, warum hat dann die Evolution überhaupt Gehirne herausgebildet, die über zwei
Entscheidungsebenen verfügen? Eine naheliegende Vermutung ist, dass bewusstes Verhandeln von
Variablen Vorteile gegenüber den unbewussten Entscheidungsprozessen bietet. Ein offensichtlicher
Gewinn könnte die Mitteilbarkeit der Gründe sein. Auch wenn die benennbaren Motive nur Fragmente
darstellen, erlaubt ihre Kommunizierbarkeit eine wesentlich differenziertere Bewertung von
Verhaltensdispositionen, als dies durch die Beobachtung von Verhalten allein möglich wäre. Diese
Mitteilbarkeit hat vermutlich entscheidend zur Entwicklung und Stabilisierung sozialer Systeme
beigetragen, weil sie die Option eröffnet, die Äußerungen über getroffene Entscheidungen zu
bewerten, Entscheidungen als intentionalen Akt zu interpretieren, Verantwortung für Entscheidungen
zuzuschreiben und Sanktionen für unerwünschte Entscheidungen vorzusehen. Und so nimmt nicht
Wunder, dass mit den sogenannten freien Entscheidungen nur die bewussten, die mit mitteilbaren
Gründen gerechtfertigten, gemeint sind.
Ein weiterer Vorteil bewussten Entscheidens ist, dass die Variablen nach rationalen Diskursregeln
verhandelt werden können. Der Abwägungsprozess lässt sich differenzierter gestalten, weil er sich auf
erlernte Regeln der Argumentationslogik stützen kann. Aber dieses evolutionsgeschichtlich junge
Verfahren hat auch Nachteile. Die rationalen, bewusst herbeigeführten Entscheidungen sind zweifach
begrenzt, einmal durch die geringe Zahl der Variablen, die gleichzeitig im Bewusstsein gehalten
werden können, und dann durch den vorgängigen Auswahlprozess, der entscheidet, welche Variablen
überhaupt ins Bewusstsein gelangen. Somit ist durchaus möglich, dass bei unbewusst ablaufenden
Entscheidungsprozessen weit mehr Variablen zueinander in Bezug gesetzt werden als bei den
bewussten. Zu vermuten ist allerdings, dass diese unbewussten Abwägungen einfacheren, kompetitiven
Regeln folgen als die bewussten Entscheidungen, die von erlernten Regelwerken strukturiert werden.
Beide Strategien, die bewussten und die unbewussten, haben somit ihre Vor- und Nachteile, und es
scheint nicht ausgemacht, dass die bewussten immer die besseren sind. Der "klinische Blick" des
erfahrenen Arztes ist gelegentlich treffsicherer als die rationale Analyse notwendig unvollständiger
Messgrößen. ... |